Krisengefüge der Künste
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Interview: Das Stadttheater als Plattform einer offenen Gesellschaft

28.07.2020

Als 2019 das Land Brandenburg die Förderung der Theater auf 80 Prozent erhöhte und die Kommunen dadurch deutlich entlastet wurden, entschied sich die Stadt Brandenburg a. d. Havel den Bereich Darstellendes Spiel am städtischen Haus aufzuwerten: mit mindestens 500.000 Euro Projektmitteln pro Jahr. Das Theater, welches Ende der neunziger Jahre durch Umstrukturierungen außer dem Orchester alle Ensembles und ein Großteil der Mitarbeiter*innen verlor, hat dadurch die Anzahl an Eigenproduktionen wieder ausbauen können – mit Unterstützung der über viele Jahre gewachsenen Amateurtheaterkultur. Wie kann ein derartiger neuer Austausch zwischen professionellen Darsteller*innen und Bürger*innen der Stadt gelingen? Entstehen neue Formen und Formate im Theaterprogramm? Wie wird die Stadt und die Bürgerschaft in die Veränderungsdynamiken einbezogen, die sich am Theater Brandenburg vollziehen? Im Rahmen seiner aktuellen Forschungsarbeit wandte sich mit diesen Fragen Lukas Stempel, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt 4 „Von Bürgerbühnen und Stadtprojekten – Neu-Formatierung als Symptom des institutionellen Wandels im gegenwärtigen deutschen Stadt- und Staatstheater“ an Frank Martin Widmaier, den Künstlerischen Leiter am Theater Brandenburg. 

 

Frank Martin Widmeier

 

Lukas Stempel: Zu Beginn der Spielzeit2019/20 beteiligte sich das Brandenburger Theater an den Veranstaltungen zum 30-jährigen Jubiläum „Friedliche Revolution“ und „Mauerfall“. Wie wichtig ist es, dass Theater sich in derartige Diskurse einbringt?
Frank Martin Widmaier: Ziel eines Theaterprogramms ist es, die Bevölkerung in ihrer Breite anzusprechen, natürlich in erster Linie mit ästhetischen Mitteln, aber auch gleichzeitig im Rahmen des Kulturauftrags, mit relevanten Zeitthemen. Betrachtet man die Geschichte der Stadt Brandenburg a.d. Havel, zeigt sich, dass in den letzten 30 Jahren, neben dem Umbruch in ein neues System und eine neue Gesellschaftsstruktur, auch Themen wie Arbeitslosigkeit oder das unglückliche Agieren der Treuhand eine zentrale Rolle spielen. Diese Themen sind natürlich aufzugreifen, vor allem vor dem Hintergrund unseres momentanen Zustands in der Parteienlandschaft und im Ringen um Demokratie. Im Rahmen des Jubiläums haben wir deshalb gemeinsam mit der Stadt und der evangelischen Gesamtkirchengemeinde der Stadt Veranstaltungsformen entwickelt, welche die Brücke zwischen damals und heute schlagen sollten. Unter anderem wurde nach dreißig Jahren das Format „Runder Tisch“ wieder konzipiert. Hier wurde z.B. über Fortschritt und Nicht-Fortschritt in den Bereichen Kultur, Umwelt, Stadtentwicklung und Erziehung diskutiert. Auf den Podien wurden neben Zeitzeugen auch junge Bürger*innen zum Austausch und zum Gespräch eingeladen. Zusätzlich haben wir als Theater, Schauspieler*innen des ehemaligen Ensembles gebeten, im Rahmen einer Lesung die damaligen Verhältnisse zwischen Theater und Bezirksleitung der SED darzustellen. Ich sehe es als meinen Auftrag an, Theater für den Ort zu machen, an dem ich arbeite und die Themen zu suchen und aufzunehmen, die den gesellschaftlichen Diskurs gerade bestimmen.


Wie werden in künstlerischen Produktionen und im Rahmenprogramm aktuelle Themen aufgegriffen?
Zu Spielzeitbeginn haben wir die Uraufführung von Grete Minde ins Programm gesetzt, in welcher das Thema Dynamik von Hass, Dynamik von übler Nachrede, von Verleumdung, auch vor dem Hintergrund von ‚Fake News‘, verhandelt wird. Mit dem Musical Mein Freund Bunbury von Gerd Natschinski haben wir ein Stück gespielt, in dem es um die Doppelbödigkeit menschlicher Verhältnisse geht. Zusätzlich gab es in unserem Foyer eine Ausstellung des Brandenburger Karikaturisten Paul Pribbernow, der die politischen Systeme im Nachkriegsdeutschland bis heute kritisch betrachtet hat. In einem Theaterkonzept sollte der Diskurs, die Bildende Kunst, die Darstellende Kunst, die Musik als zusammengehörig betrachtet werden. In unserer heutigen Zeit muss ein zusätzliches und diverses Angebot an Veranstaltungsformen geschaffen werden, weg von einem reinen Repräsentationstheater. Neben der Reibungsfläche, die Kunst vor allem im Darstellenden Spiel durch die Aufführung erreicht, ist die Reflexion darüber genauso wichtig. Hier ist das Stadttheater eine besondere Plattform einer offenen Gesellschaft. Wir können beispielsweise das Foyer als öffentlichen Raum der Bevölkerung zur Verfügung stellen, mit Ausstellungen, Kunstmessen oder Mini-Festivals und anderem. Das Stadttheater der Zukunft muss stärker mit der Gesellschaft vor Ort im Austausch stehen, und wird sich vermehrt auch über partizipative Theaterformen definieren.


Welche Rolle spielt im Rahmen der Neustrukturierung des Programms und der Öffnung hin zur Stadt die Historie des Brandenburger Theaters?
Vor ca. zwanzig Jahren wurden alle Ensemblemitglieder von Ballett, Chor, Musiktheater, und Schauspiel entlassen. Nur das Orchester wurde erhalten. So hat sich das Brandenburger Theater hauptsächlich zu einem Bespieltheater entwickelt, obwohl das Land Brandenburg das Konzept hatte, mit dem bestehenden Theaterorchester auch Opern zu produzieren. Das konnte jedoch aus organisatorischen und finanziellen Gründen nicht lange realisiert werden. Das Theater wurde hauptsächlich zu einem so genannten Abnehmerhaus von Produktionen der anderen Brandenburger Theater. Das Orchester entwickelte sich mehr und mehr zu einem Sinfonieorchester mit wenig Einsätzen im Musiktheater. Dass in der Stadt aber weiter ein Bedarf an Theater bestand, zeigte sich in Aktivitäten ehemaliger Ensemblemitglieder und Laien aus der Stadt in der „freien Szene“.
2018 gab der Oberbürgermeister in der Stadt Brandenburg dann den Impuls, das Theater wieder verstärkt zu einem eigenproduzierenden Haus hinzuführen, inklusive Neugründung eines Ensembles. Grund dafür war die erwähnte gestiegene Landesförderung. Für 2019 und 2020 wurde deshalb ein Projektmitteletat von 500.000 Euro vonseiten der Stadt eingerichtet, mit welchem mehr Eigenproduktionen realisiert werden sollen. Es war aber schnell klar, dass dieses Geld nicht in die Schaffung eines Ensembles investiert werden kann, auch um eine gewisse Vielfalt im Programm weiterhin zu ermöglichen. Somit habe ich versucht, aus einem Pool von Schauspieler*innen ein freies festes Ensemble aufzubauen. Gleichzeitig wurde von mir der Laienbereich ausgebaut, das heißt: es gab zwar bereits eine Bürgerbühne und ein Jugendtheater, die Möglichkeiten der Auftritte und der Partizipation an Projekten, außer den eigenen, wurden jedoch erhöht.


Wie werden die nichtprofessionellen Darsteller*innen in die Produktionen einbezogen?
Die Uraufführung von Grete Minde im September 2019 wurde von knapp zehn professionellen Schauspieler´*innen und 25 Menschen aus der Bevölkerung verwirklicht – Bürgerbühne, Jugendtheater und anderen Interessierten. Meine konzeptionelle Idee war, mit den Amateuren als Bewegungs- und Sprechchor, das Volk als Gegenpol zu den agierenden zentralen Rollen auftreten zu lassen.
Für das Musical Mein Freund Bunbury brauchten wir einen Chor. Deshalb wurde 2019 ein Theaterchor gegründet. Dieser setzt sich ausschließlich aus Laien zusammen. Die Kosten für den Chorleiter und die Stimmbildung übernahm das Theater. So konnte man in der Revueoperette Mein Freund Bunbury die Akteur*innen des Chores singend, tanzend und in zahlreichen kleinen Rollen erleben. Und damit haben wir viele Brandenburger*innen an das Theater binden können, die voller Begeisterung entdeckt haben, was Theater bedeutet. In diesem Projekt wurde das partizipative Arbeiten deutlich ausgeweitet. Auf diese Weise kann auch in Zukunft die Anzahl der Produktionen erhöht werden. Und damit gewinnen wir Publikum, gewinnen wir Theaterinteresse; so entsteht überhaupt erst wieder ein Flair in die Stadt Brandenburg a.d. Havel: „Was bedeutet es für uns, ein eigenes Theater zu haben?“.


Welche Herausforderungen entstehen in der Arbeit mit Laien?
Es kommt einerseits darauf an, die Menschen auf der Bühne so zu faszinieren, dass das Gemeinschaftsprojekt gelingt. Andererseits muss die ästhetische Konzeption erzählt und vermittelt werden. Auch muss im Rahmen der Proben auf eine gute Mischung zwischen Trennung und Zusammenführung von professionellen Schauspieler*innen und Laien geachtet werden. Im Kontrast dazu ist die Laien-Chorarbeit durch die von der Partitur vorgegebene Struktur etwas einfacher zu realisieren. Da in Mein Freund Bunbury der Chor auch tänzerische Elemente einüben musste, war hier die Auswahl der Choreographin entscheidend. Die Gruppe sollte sich gut verstanden und behandelt fühlen. Und wenn man einmal in so einem Prozess mitgewirkt hat, weiß man, auf was man sich da einlässt. Es ist ein oft langer und komplizierter Weg, bis man zwischen Text, Person, Haltung und Spiel wirklich eine Form findet. Ich bin deshalb stets auch immer ein bisschen Missionar in Fragen wie „Was ist Theater?“, „Wie ist Theater?“ und „Was für eine einmalige Ausstrahlung hat Theater?“. Sich selbst zu repräsentieren und aktiv auf der Bühne mitzuwirken – das ist für viele nicht-professionelle Darsteller*innen ein prägendes Erlebnis. Schlussendlich ist es wie in der klassischen Programmarbeit wichtig, Themen und Stoffe zu finden, die im Publikum für Überraschungen sorgen und auch eine Reibungsfläche bilden, auch begeistern oder Emotionen freisetzen, ganz im Sinne unseres Kulturauftrags.


Kann sich aufgrund der engen gemeinsamem Arbeit mit Laien ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln?
Im Rahmen der Produktionen Mein Freund Bunbury und Grete Minde ist auf jeden Fall eine Gemeinschaft entstanden, mit allen Problemen, die jede Gruppe mit sich bringt. In der Bürgerbühne und im Jugendtheater klappte das ja schon länger. Es war toll zu beobachten, wie Menschen, die in ihrem Leben zuvor wenig Berührungspunkte mit Kunst oder Theater hatten, für sich eine völlig neue Tür aufgemacht haben. Es geht mir nicht darum zwischen Profis und Laien zu unterscheiden, sondern es geht darum, gemeinsam künstlerisch zu arbeiten. Und das schließt beispielsweise aus, dass man Hierarchien entstehen lässt. Wichtig ist, mit allen Beteiligten künstlerisch auf gleicher Augenhöhe zu agieren.


Was fasziniert Sie an der Arbeit mit Laien?
Als Regisseur und künstlerischer Leiter habe ich immer wieder versucht, Kontakte zwischen dem Theater in der Stadt und den kleinen freien künstlerischen Aktivitäten herzustellen, beziehungsweise Zusammenarbeit zu ermöglichen. Besonders im Rahmen der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnte ich erfahren, dass dadurch Begeisterung für das Theater geweckt werden kann. Besonderen Spaß macht es mir, im Rahmen dieser Arbeit junge Sänger*innen oder Schauspieler*innen zu fördern. Einige junge Menschen, die mir so begegnet sind, entschieden sich später für einen Ausbildungsweg im künstlerischen Bereich.
Wie arbeiten Sie im Rahmen der Entwicklung Ihres Programms mit Institutionen aus Brandenburg zusammen?
Innerhalb der Stadt Brandenburg führen wir einen Dialog mit Kultur- und Bildungseinrichtungen, wie Schulen, Musikschulen und Chören. Mit den Kulturkreisen in der Stadt Brandenburg stehen wir ebenso im intensiven Austausch. Zusätzlich ist es mir wichtig, eine überregionale Vernetzung herzustellen. Mit dem Theater- und Konzertverbund des Landes Brandenburg wird dies schon seit Jahren geschaffen. Durch die Entwicklung des freien festen Ensembles wurde zudem der Austausch mit der Freien Szene verstärkt. In Zukunft streben wir eine Kooperation mit Studierenden der UdK in Berlin an.


Wie wird Ihre Arbeit in der Brandenburger Stadtgesellschaft auf- und wahrgenommen?
Durch die Erhöhung der Anzahl von Eigenproduktionen hat das Haus bereits nach einem Jahr eine deutlich größere Ausstrahlung bekommen. Wir hoffen, dass eine Re-Institutionalisierung stattfindet und die Mittel weiter verstetigt werden um Planungssicherheit zu bekommen, auch verbunden mit einem Wiederaufbau der Sparten. Durch die Mitwirkung vieler Bürger*innen in den größeren Projekten gehen plötzlich mehr Menschen im Haus wieder aus und ein. Das Community-Konzept, welches ich speziell für das Theater Brandenburg entwickelt habe, wird also sehr gut angenommen. Auch die Durchlässigkeit der vielfältigen partizipativen Angebote funktioniert prächtig: Viele machen in den Projekten in verschiedenen Ensembles mit.


Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie in Zukunft auf Ihre Arbeit haben?
Corona wird nicht spurlos am Theater vorübergehen. Dennoch bin ich sicher, dass viele Menschen irgendwann voller Sehnsucht wieder in unsere Häuser kommen, vor allem um wieder das soziale Miteinander stärker und tiefer zu erleben. Aktuell können Online-Angebote nur eine Brücke schlagen. Auch die Einschränkungen werden uns eine Weile live stark limitieren. Sie werden die Aura eines Theaterabends nur sehr begrenzt übertragen können. Was die Politik angeht, wird es schwieriger. Ich hoffe, dass die bescheidenen Mittel, die im Vergleich zum Gesamthaushalt für Kunst ausgegeben werden, nicht radikal runter gefahren werden, und dass eine Neiddebatte entsteht, wie wir sie schon zum Teil aus früheren Zeiten kennen: also, dass man jetzt wieder Schulspeisungen und KITA-Plätze gegen Zuschüsse für das Theater hochrechnet. Inzwischen ist doch unbestritten: Jeder in das Theater investierte Euro bringt vierfach Früchte. Das rentiert sich besonders an einem so zukunftsfähigen Ort wie Brandenburg an der Havel: Natur, Kultur, Geschichte, die sich in einem tollen Stadtbild wiederspiegelt und die Lage in der Hauptstadtregion mit bester Verkehrsanbindung.


Wie systemrelevant ist Theater?
Je fester ein Theater in die Gemeinschaft der Stadtgesellschaft eingebunden ist, seine Wichtigkeit von den alten und neuen Bürger*innen erfahren und gespürt wird, ja, um den aktuellen Begriff einzusetzen: seine Systemrelevanz erkannt wird, um so hoffnungsvoller können wir daran glauben, dass es auch nach der Corona-Krise Theater eine Zukunft hat. Dabei setze ich auf die Vernunft unserer Politik. Der Kunstbetrieb hat sein Zentrum nicht in einer Form der Effizienz im marktwirtschaftlichen System, sondern in den existentiellen Fragen des Menschen, die im Spiegel der Bühne die Menschen ansprechen.


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